Worte eines Greina-Pioniers

Autor/in: 
Bryan Cyril Thurston

 

es gibt andere greinas

verloren -
rinnsale der freude -
ein inferno wallend-flüssiger nebel
umwirbelnd,
aus wolken und regen:
mäandrierende flußarme des friedens

in diesem parautochthonen raum der vielfalt –
wo fließende nebelbänder
unbegrenzte horizonte von schnee und berggrat
freilassen –
über meeresarmen tonige schwarze schiefer
glitzernder firn, blanker, tief-karbonfarbener
bergsee –

wahrlich ein «schieferhaufen»
von unendlich weitem ausmaß –
einsamer pizzo coroi,
eine welt der ergreifenden farbe!
subtilität der empfindungen,
allein, hochragend und zentral

wüste von glatscher dil terri

eine gerade spur durch endlosen schnee
durchzieht den oberen rand des gletschers –
über die umrisse von wassern,
so dünn auf der oberfläche,
daß jeder fallende geröllstein verschwindet

verschwiegenheit und gänzliche stille
jenseits der welt
felsige abgründe
geboren aus weißer nichtigkeit

tödlich für den menschen in stürmen –
während vielleicht nur der schneehase oder die gemse
hastet bei nacht
mitten in dieser ewigen wüste

weich-fließende linien
bezeichnen die obere, abfallende flanke des
glatscher dil terri –
dreckiger, schwarzer grieß am bergschrund
ein glaziales relief -
unaufhörlich
vom rauschenden wasser überflossen
einem blau-schwarzen glazialsee entgegen -
widerspiegeln:
segelnde eisblöcke, in wühlendem nebel

fülle –
äußerst entlegen

angestrahlte greinaebene
eindringende ströme von licht
nebelbänke durchbrechend,
zerteilen die bergflanken
in helle und dunkle

alles in kontrast
zum eisigen nebel
des terri und seiner gletscher

atemraubend
treten wir aus der val canal
plötzlich
ändert die szene vor unseren augen
Sonnenstrahlen brechen durch -
die gewundenen bachadern
sind leuchtend goldsilbern,
die wogenförmige gestalt
des plaun la greina wird zerrissen -

aus dem nebel in eine freudenvolle
zuflucht des lichts

himmel und wolken im greinaboden
allenthalben
wolken im gewässer des hochlandes
gipfel und gräte im firmamentsgewölbe

unausgesprochener äther der greina
du zwingst uns, die gräser vor uns zu stellen

die hohen kräuter und disteln
dem gelände folgend
wie schafe der ursprünglichkeit

coroi-plateau

zwischen unzähligen limmonit-schüssigen,
schiefrigen felsbändern,
ausgehöhlt und eingebettet:
zwei weit-verlorene blaß-blaugraue bergseen

brüchige kanten und absätze führen

andauernd zu neuen schieferterrassen
und geweben von grün-schattierten firnresten
und dunkle geländezungen
erscheinen als eisedrahtnetzwerke

inmitten ewig-eis und steiniger öde
vollkommen abseits vom gewohnten,
erläßt sich ein neuer maßstab von
gegenwärtiger größe, inne werden

menschen-öde räume
man könnte meinen
aus dem widersprüchlichen –
hoffnung –

eigenständig –
strotzend von gesundheit
begegnet uns mit überströmender
gastfreundlichkeit
der urtümliche bergamasker hirt
durch die gewässer schreitend
ein zeichen des fortbestands
unseres menschengeschlechts
unbetrübten wassern
nahe der zwiebelfelder des lebens:
geringe abspiegelung von
pizzo coroys stolzer krone

in der tiefe flackernd –
im herzen der greina,
wild und verstreut –
während sie spielen
bei nacht, die letzten lichter widerhallen
und geben raum:
für stürme und winde –
bäche von unaufhaltsamem, andauerndem laute!

am rande der einsamen hochebene
an der stufenmündung der val canal
steht eine hirtenhütte -
mit steinplatte gegen die witterung geschmückt,
und ebenso leben ihre bewohner
wie ausgestoßen aus der gesellschaft.
auf den schmalen tablaren als begleiter der hirten:
die mäuse

liebe menschen im anfangsstadium –
noch nicht ist sattheit und wohlstand eingetroffen –
solange ihr weidland gottes ist
wird es der menschheit gut gehen

wort des hirten
halt!
hier ist es gefährlich
seht die grabtafeln!

geht nicht weiter,
schlaft nur mit dem beil zur seite
oder gar bei nebel und nacht
ist die greina nicht gangbar
und
dieses wort ist wahr
laßt euch nicht trügen

es ist das wort der hirten für unsere zeit:
die greina ist karges weidland,
ein ungebändigtes hirtenrecht auf ewige zeiten
der wild gewundene bach ist ihr bad,
das quellwasser ihr bestes und einziges getränk!
ein geopferter widder, der von schäferhunden am seil
über den „plaun“ hergeschleppt wird:
ist ihr fleisch für das leben dieser weit

also
HÄNDE WEG VON DER GREINA
sonst geht ihr zugrunde
die köpfe abgeschnitten

sei wie die hirten und das wasser –
die noch überleben werden

karger grat des pizzo coroi

übersät mit bröckelnden quarzbrocken –
erbarmungslos vom bitteren nordwind überflossen

nirgends ein platz der abschirmung –
bis weiter oben,

in der schiefrigen mulde, unter dem gezackten gipfelgrat
eine oase der stille –
unerwartet und verstohlen auftaucht

zwischen felsvorsprüngen und geröllhalden,
öffnet sich unvermittelt ein schreckensvoller abgrund
in der tiefe der valle cavallasca

ein äußerst wilder anblick:
der unendlich weite, sanfte aufstiegsgrat,
der dunkle kopf vom pizzo di güida –
vom neuschnee besprenkelt
verlieren sich die steilen flanken des piz terri
in schleichenden nebel
unreal gesättigt und geheimnisvoll gewoben

querung des plaun la greina
in hagel, licht und regen -
ein durcheinander der lichtstrahlen,
gestreifte, fließende schneebänder -
düster-bewachsene moräne -
in der tiefe leuchten die greinabäche
wie quecksilber -
aus ihrer dunklen umrandung

la greina: bergland der ungeteilten wilde,
rauhe und einsamkeit -
ES GIBT ANDERE GREINAS

red cuillin 1

zerbröckelnde, alte rote - gräte -
mit geröll und schutt überstreut,
durch zeiten windige regen und graupeln

granolithische massen
geglättet - hinunterzerschlagen
tauchen wieder aus dichtem nebel
unbekannte, unbestiegene massige abdachung
deutet nur das geheimnis des naheliegenden meeres
unglaubiger ort
ätherische schönheit und reiz
hoch-gestellt abseits für den herausforderer -

black cuillin 1

jüngeres, grün-schwärzliches gabbro
widerspiegeln augenblicklich:
strahlen und schäfte von licht –
jede laune vom umliegenden meer,
während sturmwinde heulen mitten in die intrusiven
bergflanken und zinnen

1 insel skye, Innere hebriden, Schottland

Quelle: Buch „La Greina“, Das Hochtal zwischen Sumvitg und Blenio, Schweizerische Greina-Stiftung (SGS), Verlag Bündner Monatsblatt / Desertina AG, Chur, 1997