1. Einleitung
Im Verlaufe des 20. Jahrhunderts wurden verschiedene Projekte ausgearbeitet, den beiden Berggemeinden Vrin und Sumvitg vorgelegt und genehmigt. Unsere Gemeinden sind, wie die meisten im Berggebiet, in keiner beneidenswerten finanziellen Situation. Bei einem Bau des 1957 geplanten Greina Kraftwerkes hätten beide Gemeinden nach einer Inbetriebnahme mit Einnahmen von rund 2,4 Mio. Franken pro Jahr rechnen können. Mit der Nutzung dieser eigenen Ressourcen hofften wir, eine grundlegende Verbesserung unserer Gemeindefinanzen zu erreichen, um unsere öffentlichen Aufgaben und dringende Vorhaben im Bereiche der Abwässer und des Gewässerschutzes, der Berglandwirtschaft, der Waldwirtschaft und der Lawinenverbauung realisieren zu können.
Die Gemeinde Vrin ist seit Bestehen des interkommunalen Finanzausgleichs (1958) finanzausgleichsberechtigt. Ohne jährliche Beiträge aus dem Finanzausgleichsfonds war die Gemeinde bisher trotz Ausschöpfung aller zur Verfügung stehenden Einnahmequellen und Erhebung höchst zulässiger Steuern und Abgaben nicht in der Lage, den ordentlichen Finanzhaushalt im Gleichgewicht zu halten. Die anstehenden und dringenden Investitionen, wie z. B. eine Abwasserreinigungsanlage für ca. 2,7 Mio. Franken, die Alpsanierung und die Aufforstung eines lawinengefährdeten Gebietes mußten immer wieder aufgeschoben werden. Die notwendige Sanierung des Schulhauses (ca. 3,4. Mio. Franken) kann laut Bericht des Gemeindeinspektorates nur realisiert werden, wenn zusätzliche Einnahmequellen erschlossen werden können. Dazu kommen noch weitere notwendige Investitionen.
Nicht viel besser ergeht es der Gemeinde Sumvitg, wenn man die sich laufend verschlechternde Finanzlage und die Nettoverschuldung (pro Kopf) im Verhältnis zur Bevölkerung vergleicht. 1980 betrug die Nettoverschuldung noch 600 Franken pro Kopf, 1984 bereits 4000 Franken und 1988 5000 Franken und 1992 6700 Franken. Während der Wald früher eine solide Einnahmequelle bildete, haben sich diese Einnahmen in den letzten Jahren um 73 Prozent verringert. Auf der anderen Seite belasteten die unabwendbaren Investitionen infolge Naturkatastrophen (Bergsturz 198o, Lawinenjahr 1984, Unwetter 1987, Vivian 1990 unsere Berggemeinde immer mehr. Die Kosten für die in der Folge erstellten Projekte für einen Tunnelbau, Lawinenverbauungen, Aufforstungen und Wuhrbauten beliefen sich auf rund 45 Millionen Franken. Davon sind bis heute rund zwei Drittel verbaut worden. Auch wenn sich Bund und Kanton bei der Subventionszusprechung für diese Bauvorhaben großzügig gezeigt haben, verbleiben der Gemeinde noch Restkosten im Umfange von 15 Prozent. Eine Alpmelioration wird die Gemeindekasse mit 850000 Franken belasten. Die Gemeindekanalisation kostet Sumvitg nach ihrer Fertigstellung 7,5 Millionen Franken. Die Kosten für die vorgesehene Sanierung der Gemeindestraße in Val Sumvitg sind auf ca. 3 Millionen Franken veranschlagt worden. Zu den zusätzlichen finanziellen Belastungen des Gemeindefiskus kommen noch die üblichen Auslagen eines öffentlichen Haushaltes. Aus der Sicht der Gemeinden ist klar, daß sie auf den Bau dieses Kraftwerkes und auf die entsprechenden Einnahmen sehr angewiesen waren und sich dadurch einen Aufschwung erhofft hatten.
Das geplante Wasserkraftwerk Projekt Greina war indessen zusehends durch zahlreiche Auseinandersetzungen, insbesondere in Naturschutz und Künstlerkreisen, begleitet. Schutz und Nutzinteressen standen sich zeitweise unversöhnlich gegenüber. Die harten Auseinandersetzungen um die Erhaltung der Vorderrheinlandschaft und gegen den Bau der Ilanzer Kraftwerke ließen aus der Sicht der Gemeinden nichts Gutes erwarten. Entsprechend reichte der erste Präsident der Schweizerischen Greina Stiftung (SGS), alt Nationalrat Dr. Erwin Akeret sei., 1983 einen entsprechenden Vorstoß im Nationalrat ein. Bereits damals wurden seitens der «Pro Rein Anteriur» mit der Energieinitiative und seitens der Schweizerischen Greina Stiftung (SGS) mit dem Landschaftsrappen nicht nur der einseitige Schutz, sondern auch Ausgleichsleistungen zu Gunsten der Gemeinden verlangt. Da solche Ausgleichs-Lösungen noch nirgends realisiert waren, trauten unsere Gemeinden solchen Versprechungen wenig.
2. Eine neue Dimension im Umweltschutz
Im Herbst 1986 beschlossen die Nordostschweizerischen Kraftwerke (NOK) als Konzessionärin, den Bau des Greina Kraftwerkes doch nicht auszuführen. Damit hatten die jahrelangen Auseinandersetzungen und Konzessionsverlängerungen ein Ende. Eine neue Epoche begann. Bisher. war man auf Bundesebene und in politischen Kreisen der Meinung, daß Gemeinden, welche Landschaften von nationaler Bedeutung erhalten, für diese nationalen Denkmäler selber aufzukommen hätten. Die Schweizerische Greina-Stiftung schlug hier einen neuen Weg vor. Gestützt auf Art. 24sexies der Bundesverfassung (BV) sollten Ausgleichsleistungen im Sinne des Landschaftsrappens an die Gemeinden ausgerichtet werden. Mit der Belastung der Hydroelektrizität von max. 1 Rp./kWh sollten die Gemeinden angemessen entschädigt werden. Dies sollte vor allem für jene Gemeinden gelten, welche Landschaften von überregionaler oder von nationaler Bedeutung unter Schutz stellen. Denn damit erfüllen sie eine Bundesaufgabe, wofür sie angemessen entschädigt werden sollten. Die Unterschutzstellung einer Landschaft bedeutet nämlich für die Gemeinden Verzicht auf eine weitergehende Nutzung ihres kommunalen Hoheitsgebietes. Wenn die Unterschutzstellung und die Erhaltung von Landschaften von nationaler Bedeutung im Bundesinteresse liegt, so geht es nicht an, daß die Gemeinden diese Bundesaufgabe allein tragen.
Die Begründung für die verfassungskonforme Rechtsgrundlage zur Durchsetzung dieser Ansprüche zu Gunsten der Gemeinden in der Form des Landschaftsrappens setzte Ständerat Prof. Dr. René Rhinow mit seinem Rechtsgutachten im Oktober 1987. Gestützt darauf wurde ein entsprechender Vorstoß in der vorberatenden Kommission durch Ständerätin Esther Bührer lanciert. Bei der ersten Abstimmung in der Kommission erzielte sie eine Stimme, später im Rat unterlag der Antrag mit 19 zu 9 Stimmen. Doch bereits besser sah es in der zweiten Kammer aus, als im Juni 1989 der' Nationalrat überraschend dem Landschaftsrappen zustimmte. In diesem Bereich erwiesen sich insbesondere die Stiftungsräte der SGS als sehr erfolgreich. Dreimal stimmte der Nationalrat zwischen 1987 und 1990 dem Konzept des Landschaftsrappens zu. Leider stimmte der Ständerat viermal dagegen.
Schließlich wurde eine Kompromißlösung gefunden, sodaß die Ausgleichsleistungen der Bundeskasse entnommen werden konnten. Diese gesetzliche Regelung wurde am 17. Mai 1992 durch die Volksabstimmung genehmigt. Einen erneuten Angriff, diese Ausgleichsleistungen aufzuheben, unternahm der Bundesrat Ende 1994. Um angeblich Bundesausgaben einzusparen, sollten die Ausgleichsleistungen, welche soeben vom Volk angenommen worden waren, wieder aufgehoben werden. Dagegen wurde vor allem seitens der Schweizerischen Greina-Stiftung und der Parlamentarier im Stiftungsrat eine massive nationale Kampagne lanciert. Diese wurde unterstützt durch eine klare Stellungnahme von 18 der bedeutendsten Staats- und Verwaltungsrechtsprofessoren der Schweiz, welche eindringlich ersuchten, auf eine Streichung eines Bundesgesetzes, welches soeben vom Volk angenommen worden war, zu verzichten. Die Streichungsanträge hatten weder im Nationalrat noch im Ständerat Erfolg, sodaß die Ausgleichsregelung 1995 im Gesetz bestehen blieb.
Nach jahrelanger Arbeit und harten Auseinandersetzungen war das Ziel nun erreicht: Eine der schönsten alpinen Hochebenen zwischen Nizza und Wien kann erhalten werden, ohne daß dies zu Lasten der finanzschwachen Berggemeinden und deren Bergbevölkerung geht! Dieses Beispiel möge als Ansporn für weitere Taten im öffentlichen Interesse gelten: Die SGS wurde mit ihrer Idee des Landschaftsrappens zuerst kaum ernstgenommen und eher belächelt, dann politisch bekämpft. Heute ist diese «neue Dimension im Umweltschutz», wie die NZZ im August 1995 schrieb; eine Selbstverständlichkeit - und im Bundesrecht verankert.
1996 wurde der Landschaftsfranken durch den SGS-Stiftungsrat und Ständerat Dr. Thomas Onken eingeleitet. Sowohl Ständerat wie Nationalrat stimmten diesem Vorhaben anläßlich der Erhöhung des Wasserzinses von 54 auf 8o Franken zu, sodaß die Finanzierung der Ausgleichsleistungen nun verursachergerecht und ohne Belastung der Bundeskasse möglich wurde. 1996 war für die Gemeinden aber auch in anderer Hinsicht ein erfreuliches Jahr. Die Stiftung für Landschaftsschutz übergab eine Million Franken, welche sie von einem Vermächtnis zu Gunsten der Greina erhalten hatte.
Erfreulicherweise hat der Bundesrat nun beschlossen, das revidierte Wasserrechtsgesetz auf den 1. Mai 1997 in Kraft zu setzen. Aufgrund der Aufteilung zwischen den Gemeinden und dem Kanton Graubünden erhalten unsere Gemeinden ab Mai 1997 erstmals rund 1 Mio. Franken pro Jahr oder rund 4o% des ursprünglich geplanten jährlichen Ertrages, wenn das Wasserkraftwerk gebaut worden wäre. In einer Motion der SGS-Vizepräsidentin Menga Danuser, welche der Nationalrat am 4. Oktober 1993 als Postulat überwies, wurde eine Million Franken für beide Gemeinden Vrin und Sumvitg. gefordert. Nachdem dieses Ziel vor gut 10 Jahren durch die SGS gesetzt wurde und heute, rund 10 Jahre später, eingelöst ist, können wir als Vertreter der Gemeinden jetzt bekanntgeben: «Die SGS hat ihre Versprechen gehalten und unsere Gemeinden haben ihre Ziele 1997 erreicht. Wir danken allen für den uneigennützigen Einsatz, die unzählbaren Schreiben und Verhandlungen sowie für die sehr angenehme und erfolgreiche Zusammenarbeit zu Gunsten der Greina seit 1987. Eine einzigartige Landschaft von nationaler Bedeutung wird im heutigen Zustand für die kommenden Generationen erhalten.»
3. Bündner Gemeinden widmen die Greina-Hochebene dem Schweizer Volk
Mit dem «Pilotprojekt Greina» bekunden die betroffenen Gemeinden Vrin und Sumvitg, daß das Bewahren dieser einzigartigen naturnahen Hochebene für kommende Generationen keinen absoluten Verzicht auf Nutzung beinhalten muß. Vielmehr geht es ihnen darum, vorzuleben, daß «Schützer» und «Nutzer» im Dialog zu einer Lösung gelangen können, die eine nachhaltige Landschaftsentwicklung garantiert. Das entspricht der neuen Strategie im Natur- und Landschaftsschutz, wie sie im Entwurf zum Landschaftskonzept Schweiz, einem Konzept zur Verbesserung der Anliegen von Natur und Landschaft auf Bundesebene, mit dem Leitmotiv «Partnerschaft Landschaft» zum Ausdruck kommt und durch den Bund umgesetzt werden soll. Die Ausgleichsleistungen ermöglichen die bisherige karge Bewirtschaftung dieser alpinen Natur- und Kulturlandschaft. Für 40 Jahre garantieren die Gemeinden Sumvitg und Vrin die Erhaltung und Nutzung der Landschaft im heutigen Sinne.
Zur Greina gehören auch ihre einzigartige Fauna, neben den Wildtieren die Schafe, Ziegen, Kühe, Rinder und Kälber, die dort jeden Sommer weiden, ihre einzigartige Fauna mit den unersetzlichen Pflanzen sowie alle in diesem Raum lebenden Menschen.
Ein weiterer neuzeitlicher Faktor ist der Tourismus in den zur Greina angrenzenden Bündner und Tessiner Tälern. Die große Auslastung der Terri- und der Motterascio-Hütte belegt, daß die Greina-Wanderin und der Greina-Wanderer im Sinne eines sanften Tourismus ebenfalls zum Landschaftsbild gehören. Beizufügen ist aber auch, daß die Bewanderung dieses Gebietes nicht wildes Campieren bedeuten kann und darf. Auf der ganzen Strecke und im ganzen Greina-Gebiet dürfen keine Abfälle hinterlassen werden. Es geht auch nicht an, daß Greina-Wanderer kreuz und quer durch die noch ungemähten Wiesen und Felder laufen und alles niedertrampeln. Wer durch diese Fluß- und Gebirgslandschaft wandern will, soll keine Spuren hinterlassen, weder seltene Pflanzen ausreißen noch Hunde frei laufen, Herden vertreiben oder wilde Tiere jagen lassen. Wer keine Abfälle zurückläßt und die Greina-Route so verläßt, wie er sie angetroffen hat, ist aber stets willkommen (vgl. Greina-Wegleitung der Gemeinden mit der SGS und weiteren zuständigen Behörden).
Zum Anlaß des 150jährigen Geburtstags der Schweizerischen Eidgenossenschaft und als nachhaltiges Pilotprojekt für das 21. Jahrhundert widmen die beiden Gemeinden die einmalige Greina-Hochebene allen Einwohnerinnen und Einwohnern unseres Landes. Die Gemeinden Sumvitg und Vrin laden alle Einwohner/innen der Region, des Kantons und der Schweiz ein, unsere gemeinsame Greina-Region zu besuchen und sie im erwähnten. partnerschaftlichen Sinne in Frieden mit der Natur zu erleben. Die Gemeinden Sumvitg und Vrin sind die Garanten dafür, daß diese Landschaft im heutigen Zustand und für die nächsten 40 Jahre für die 7 Mio. Einwohner unseres Landes erhalten wird. Die offizielle Widmung erfolgt am 5. August 1997 in Sumvitg durch die Gemeinden und im Beisein der kantonalen und der Bundesbehörden mit Frau Bundesrätin Ruth Dreifuss, Vorsteherin des Eidg. Departementes des Innern und Umweltministerin. Unsere Gemeinden haben sich als Garanten für diese Hochebene gegenüber dem Bund verpflichtet. Diese Pflicht ist auch ein Auftrag, das Schutzgebiet vor allen Veränderungen zu schützen, welche seine nationale Bedeutung schmälern könnten. Dafür bürgen unsere Gemeinden als Garanten eines nachhaltigen Landschaftskonzepts: Greina für das Schweizer Volk 1998.
4. Neuauflage Buch «La Greina. Das Hochtal zwischen Sumvitg und Blenio»
Am Ende dieses 20. Jahrhunderts zeigt sich, daß verschiedene Kräfte aus allen Landesteilen sich für das Greinagebiet interessierten und auch mitzubestimmen versuchten. Die betroffenen Gemeinden konnten nicht immer alles selbst entscheiden, sondern mußten teilweise Rücksicht nehmen auf wirtschaftliche, politische und rechtliche Entscheidungen, welche oft außerhalb dieser betroffenen Region getroffen wurden. Mit der heutigen Regelung der verfassungsmäßig begründeten und bundesrechtlich verankerten Ausgleichsleistungen ist nun im Rahmen des geltenden Rechts die Chance für die Gemeinden Vrin und Sumvitg gekommen, selbst die Entscheidungen zu treffen und neue Visionen für das 21. Jahrhundert umzusetzen. Anstelle und ergänzend zum damals wohl pionierhaften «Nationalpark-Gedanken», mit der praktisch uneingeschränkten Erhaltung eines klar ausgeschiedenen Naturschutz-Gebietes, soll für die Zukunft das nachhaltige und umweltverträgliche Leben, Wirtschaften, Erholung für Einheimische und Gäste in einer grenzüberschreitenden Landschaft, in einer ganzen Region, im ganzen Land möglich werden ...
Diese wegweisende Richtung einer echten nachhaltigen Raumentwicklung für die Nutz- und Schutzinteressen im 21. Jahrhundert soll mit einer gemeinsamen Herausgabe und Neuauflage des 1995 - noch mitten in den Auseinandersetzungen konzipierten und 1996 als eines der «schönsten Schweizer Bücher» ausgezeichneten Bildbandes: «La Greina. Das Hochtal zwischen Sumvitg und Blenio» dokumentiert werden.
Sumvitg/Vrin, ils 5 d'uost 1997