Die Greina - ein Symbol

Autor/in: 
Herbert Maeder

Über die kahlen, grasdurchsetzten Schutt- und Felsflächen des Passes Diesrut streicht ein kühler Westwind. Stunden sind wir von Vrin, dem höchstgelegenen Dorf der Val Lumnezia, über Alpweiden zum 2428 Meter hohen Paß aufgestiegen, voller Neugierde, die Greinalandschaft kennenzulernen. Was wir hier sehen, ist eher enttäuschend: Bergspitzen wie überall, in der Nähe der Piz Ner und der Piz Stgir, im Westen der Piz da Stiarls, der Piz Vial, der Piz Gaglianera, gesäumt von Gletscherflächen, die noch vor fünfzig Jahren eine ganz andere Ausdehnung hatten. Aber das ist ja noch gar nicht die Greina. Nach nur wenigen hundert Metern, dort wo der steile Abstieg zum Rein da Sumvitg und zur Terri-Hütte beginnt, geht unvermittelt ein Vorhang auf, und wir stehen vor einem Bild, das wir nicht mehr vergessen werden: Plaun la Greina. So lesen wir es rätoromanisch auf dem Blatt GREINA 1:25ooo der Landestopographie. Zu unsern Füßen eine für den hochalpinen Raum einzigartig weite, grüne Ebene, durch die, vom Paß Crap herkommend, der junge Rein da Sumvitg in sanften Kurven fließt. Rechts und links nimmt er Seitenbäche auf. Wenn die Sonnenstrahlen die Wolkendecke durchbrechen, leuchtet ein silbernes Geäder auf. Im Süden begrenzt das flache Dreieck des Pizzo Coroi die Ebene. Über seinen Rücken verläuft nicht nur die Grenze zwischen den Kantonen Graubünden und Tessin, sondern auch die Grenze zwischen der Alpennord- und der Alpensüdseite.

Die Greinalandschaft mit ihrer Hochebene, ihren Gipfeln, ihrem Passo della Greina, dessen schmaler Pfad durch das wilde Val Camadra ins Bleniotal führt, dem flachen Übergang von Crap la Crusch, wo die Herdenglocken der Rinder und Kühe der Alpe di Motterascio die Luft erfüllen, ist einmalig im ganzen Alpenbogen. Wo sonst läßt sich's sechs und acht Stunden wandern, ohne daß Menschenwerk in der Form von Straßen, Häusern, Telephon- und Stromleitungen, Staumauern, Seilbahnen und Skilifte zu sehen wären? Wo sonst fließen die Wasser von den Gletschern zu Tal in den Mäandern der Naturgesetze? In Kanada, Alaska, Grönland, Spitzbergen - und in der Greina.

Unser Buch porträtiert diese Gebirgslandschaft, die in den letzten Jahren immer mehr zu einem Symbol des Widerstands gegen die hemmungslose Ausbeutung der Natur geworden ist. Dem unberührten Hochtal Plaun la Greina drohte die Überflutung durch einen Stausee. Bereits im Jahre 7958 erteilten die Greinagemeinden Vrin und Sumvitg einem Kraftwerkskonsortium aus NOK Baden und Rhätischen Werke für Elektrizität AG Thusis die Konzession für die Nutzung der Greinaebene. Eine Schwergewichtsmauer hätte den jungen Rein da Sumvitg und weitere Bäche zu einem Stausee von 63 eventuell sogar loh Millionen Kubikmetern Wasser aufgestaut. Das Projekt wurde, wohl aus Rentabilitätsgründen und weil der Glaube an den Atomstrom noch ungebrochen war, immer wieder zurückgestellt. Inzwischen blieb aber die Einzigartigkeit der Greinalandschaft nicht unverborgen. Der Maler und Architekt Bryan Cyril Thurston schuf ein umfangreiches Werk über die Greina und machte mit Ausstellungen, Malwochen und Publikationen auf eine Gebirgswelt aufmerksam, die zwar nicht zu den Glanzpunkten der schweizerischen Tourismuswerbung gehört, in ihrer Abgeschiedenheit und Unberührtheit aber unübertroffen ist. Der Komponist Armin Schibler schrieb 1975 ein «Greina Oratorium». Hans Weiss, der langjährige Geschäftsführer der Schweizerischen Stiftung für Landschaftsschutz, philosophierte in Thurstons Greina-Buch und in der NZZ über den Sinn ungenutzter Räume am Beispiel der Greina.

Immer mehr Wanderer folgten der Faszination Greina. Die harten, vielstündigen Aufstiege hinderten Tausende nicht, selbst den Zauber einer unberührten Bergwelt zu erfahren. Der Andrang zu den zwei einzigen Stützpunkten im Gebiet, der Camona de Terri auf der Bündner und dem Rifugio Motterascio auf der Tessiner Seite, führte vor allem an Wochenenden zu einem Gedränge, das mit Hüttengemütlichkeit kaum mehr vereinbar war. Immerhin entschädigten nach der Hüttenenge die Schönheit und Weite der Landschaft für manchen Ärger.

1984 veröffentlichte das Eidgenössische Departement des Innern einen brisanten Bericht. Mario F. Broggi und Wolf J.Reith legten unter dem Titel «Beurteilung von Wasserkraftwerksprojekten aus der Sicht des Natur- und Heimatschutzes» eine Untersuchung von 40 Wasserkraftwerksprojekten vor, die den Promotoren eines weiteren Ausbaus der Hydroelektrizität wenig Freude machte. Die Autoren machten in ihrer Einleitung darauf aufmerksam, daß zuerst einmal der hohe Grad des bisherigen Ausbaus der Wasserkraftnutzung zu berücksichtigen sei und daß zudem der Wert der letzten unversehrten alpinen Ökosysteme zunehmend von breiten Kreisen der Bevölkerung erkannt werde. Das Projekt GREINA-SOMVIX erfuhr unter anderem folgende Beurteilung unter dem Titel Landschaftstyp: «Ausgedehnte, natürliche, von der Zivilisation unberührte Greinahochebene. Rumpftal, das von allen Seiten nur über felsige Steilstufen oder über Gebirgszüge zu erreichen ist.» Zu den Stichworten Landschaftscharakter und Heimatschutz wurde angeführt: «Unverdorbene Gebirgslandschaft mit formenreicher Alluvialebene, Landschaft ohne Maßstab. In der Schweiz einzigartiger Landschaftstyp, allenfalls noch mit Tundrenverhältnissen in Lappland vergleichbar. Seltene Erscheinung weitläufiger Einsamkeit.» Die Schlußbewertung der beiden Experten war eindeutig: «Die Greina gehört zu den noch naturhaften und zusammenhängenden extensiv oder gar nicht genutzten Gegenden der Schweiz. Dieser Umstand, die besondere Eigenart des Hochlands, begründet eine absolute Schutzwürdigkeit. Die Landschaft der Greina verdient den Schutz des Art. 22 des Bundesgesetzes vom 22.12.1916 über die Nutzbarmachung der Wasserkraft, gemäß dessen die natürliche Schönheit einer Landschaft zu schonen und, wo das allgemeine Interesse an ihr überwiegt, -diese ungeschmälert zu erhalten ist. Dementsprechend ist auf eine Wasserkraftnutzung wie auch auf eine allenfalls touristische Erschließung mit Bahnen und Straßen zu verzichten.»

1991 hätten aufgrund der Konzessionsbestimmungen die ersten Baumaschinen in Richtung Greina in Gang gesetzt werden müssen. Es ist nicht so weit gekommen. Am 11. November 1986 gab das Greina-Konsortium eine Verzichtserklärung ab. Nein, keine Spur von Respekt vor der Landschaft. Nur wirtschaftliche Überlegungen. «Angesichts der geltend gemachten Schutzwürdigkeit und der rechtlichen Unsicherheiten wäre mit einschneidenden Maßnahmen und nicht verantwortbaren zeitlichen Verzögerungen zu rechnen gewesen, die sich sehr ungünstig auf die Wirtschaftlichkeit des Werks ausgewirkt hätten» hieß es in den Kraftwerkskreisen.

Der Greina-Verzicht hatte Tausende naturbegeisterter Menschen aufatmen lassen. Für die Gemeinden Vrin und Sumvitg, denen aus dem Werk beträchtliche Wasserzinsen zugekommen wären, war es das Aus für solche künftige Einnahmen. Mit weiten Kreisen aus dem Natur- und Heimatschutz war sich die 1986 gegründete Schweizerische Greina-Stiftung bewußt, daß der Schutz letzter großflächiger Naturlandschaften nicht auf dem Buckel einiger finanzschwacher Berggemeinden erfolgen darf. Wenige Monate nach dem Verzicht habe ich im Nationalrat eine Motion «Landschaftsrappen» eingereicht, welche von 75 weiteren Ratsmitgliedern unterzeichnet war. Sinn der Motion: Mit einer minimalen Abgabe auf Hydroenergie sollte ein Fonds geäufnet werden, aus welchem Gemeinwesen, welche auf die Nutzung der Wasserkraft verzichten, um Landschaften von nationaler Bedeutung zu erhalten, Ausgleichszahlungen erhalten sollten. Am 1 .Oktober 1987 ist diese Motion bei schlechter Präsenz im Saal mit 47 zu 43 Stimmen abgelehnt worden. Kurz darauf ist die Idee bei der Revision des Gewässerschutzgesetzes wieder aufgegriffen worden. Sie ist nach einem mehrjährigen Hin und Her zwischen National- und Ständerat ins revidierte Gesetz aufgenommen worden. Nach langem Widerstand stimmte auch der Ständerat den Ausgleichsleistungen zu, leider nicht mit dem vom Nationalrat dreimal befürworteten Finanzierungsmodell «Landschaftsrappen», das die Bundeskasse entlastet hätte. Das revidierte Gewässerschutzgesetz ist nach einem Referendum aus der Elektrowirtschaft vom Souverän am 17. Mai 1992 mit einer Zweidrittelsmehrheit angenommen worden. Die Gemeinden Vrin und Sumvitg sollten damit endlich in den Genuß von angemessenen Ausgleichsleistungen gelangen.

Nachtrag zur zweiten Auflage: Die Greina-Gemeinden Vrin und Sumvitg erhalten seit dem Monat Mai 1997 die lange Zeit umstrittenen Ausgleichsleistungen. «Die Greina - neue Dimension im Umweltschutz» betitelte die Neue Zürcher Zeitung am 12. August 1995 einen ganzseitigen Beitrag. Mit dem Schutz der Greina-Landschaft - sie ist 1996 in das Bundesinventar der Landschaften und Naturdenkmäler von nationaler Bedeutung BLN aufgenommen worden - und den Ausgleichsleistungen für die Gemeinwesen, ist der Umweltschutz in der Schweiz einen wichtigen Schritt vorangekommen.

Quelle: Buch „La Greina“, Das Hochtal zwischen Sumvitg und Blenio, Schweizerische Greina-Stiftung (SGS), Verlag Bündner Monatsblatt / Desertina AG, Chur, 1997

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